Über die irritierende Frage, was man heutzutage auf dem WGT anziehen sollte.
X-Tra-X gibt es nicht mehr: Vor wenigen Wochen hat der Online-Shop des traditionellen Szene-Klamottenladens dichtgemacht. Beziehungsweise, sein Angebot ist dort gelandet, wo es mittlerweile wohl leider hingehört: Bei EMP. Das ist jener größter deutscher Jugendkultur-Ausstatter, der T-Shirts mit Aufschriften wie „Feierwehr“ verkauft. Fragt man sich da nicht, ob einem eine Übernahme durch H&M am Ende nicht doch besser gefallen hätte? Was ist da nur passiert?
Meinen ersten X-Tra-Katalog, so hieß die Firma damals noch, bekam ich in den ganz frühen 90ern von Oswald, quasi unter der Hand: Wie die wenigen angebotenen Kleidungsstücke, ein paar Hemden, zwei, drei paar Schuhe und ein Mantel, genau aussahen, war auf den kopierten Bildern bestenfalls grob zu erkennen. Trotzdem waren die vier Schwarzweiß-Seiten (oder waren es acht?) eine Offenbarung: Ich war auf der Suche nach Kleidung, die mein Inneres auch nach außen transportierte. Ich wollte so aussehen, wie ich mich fühlte und bestellte einige Rüschenhemden.
Die Wirkung war enorm: Ich sah in den Augen meiner Umwelt verdammt eigenwillig aus. Unpassend und verängstigend offenbar – dennoch konnte niemand wirklich etwas sagen, trug ich doch offenkundig edle, gut sitzende Kleidung. Ich freute mich vor allem, dass der von mir beabsichtigte Haupteffekt eintrat: ich kam mit Menschen ins Gespräch, die die Ausrichtung meines inneren Weltbildes an meinem Äußeren erkannten, weil sie genau so fühlten – und sich eigentlich damit genau so allein wähnten. Das machte mir Mut, ich trug fortan fast ausschließlich Kleidung, die diesen Effekt haben sollte. Kleidung, die es mir wie ähnlich fühlenden Dunkelmenschen ermöglichte, eine Art geistiger Familie zu gründen. Dass im Umkehrschluss andere Menschen sich abgeschreckt fühlten und auf Distanz blieben, war dabei Großteils nicht negativ.
Trotzdem gab es auch seltsame Neben-Effekte. Mehrfach sprachen mich im Menschen an, die wissen wollten wo ich die „abgefahrenen Klamotten“ herhabe. Sogar in der Londoner U-Bahn. Dieses Interesse war vor allem ein modisches. Es wäre gelogen zu behaupten, dass mir so etwas als jungem Menschen nicht auch geschmeichelt hätte – wer wird nicht gern mit Bewunderung gesalbt? Doch im Kern war es mit unangenehm, weil es nie mein Ansinnen war, aufzufallen oder zu provozieren. Dass so etwas passierte, damit konnte und musste ich immer leben, aber es war eben nicht das worauf man aus war. Und: Mein Outfit darf einen gewissen Aufwand nie übersteigen. Ich fand es immer gut, wenn ich mein Inneres mit ein paar wenigen Handgriffen nach außen tragen konnte – um sie mit Stylen zu verplempern ist mir meine Lebenszeit dann doch zu kostbar. Denn eines steht fest: Ich wollte mich nie verkleiden!
Wann also war der Punkt, an dem mir der Klamotten-Overkill auf dem WGT zu viel wurde? Denn es gab zwei aus meiner Sicht destruktive, wenn natürlich wohl auch unvermeidliche Entwicklungen: Ein Teil der Szenemenschen nutzte Kleidung wie eine Uniform – man versuchte, durch sein Äußeres ein gewünschtes Inneres herzustellen. Theoretisch ein nachvollziehbarer Wunsch, praktisch aber ein lächerlich absurdes Ansinnen, an dem die stetig wachsende Zahl der Gothic-Klamotten-Krämer aber prächtig zu verdienen schien. Und ein anderer Teil versuchte, sich durch immer aufwändigere Kostüme quasi „nach oben“ abzusetzen. Zugegeben, das machte die Szene optisch reizvoll, auch ich schaute (und schaue) da durchaus sehr gern. Nur: Letztlich rutschten jene Szenemenschen leicht in ein anderes Extrem und vergaßen über der Lust am zeigen, was sie eigentlich zeigen wollten. Und warum.
Beides ist ansich nicht sträflich, jeder muss auch in dieser Hinsicht seinen Weg gehen können. Aber es befeuerte eine unschöne Entwicklung, die sehr schnell in einem rein modischen Kreislauf von Angebot und Nachfrage landete: Die einen wollen schnell und billig zum optischen Ziel kommen, die anderen auffällig und exklusiv – und eine Wirtschaft, deren Untergrund-Mechanismen sich bald in nichts mehr von der herkömmlichen Industrie unterschieden, bildete den Transmissionsriemnen. Das Bedauerlichste dabei: Man kann eben nicht mehr wie der Goth aussehen, als der man sich fühlt, weil man dann wie eine Klischeefigur aus dem letztens Telefonbuchdicken X-Tra-X-Katalog aussähe. Zumal es ja auch eine Wechselwirkung gibt und man dieser Goth dann eben auch innerlich längst nicht mehr ist.
Die Frage, was man selbst zum WGT tragen soll, ist daher zu einer der schwierigsten geworden. Ich beantworte sie seit Jahren für mich notgedrungen einfach – und trage, was ich das ganze Jahr über auch trage: Schwarz in einer Ausformung, die irgendwie so pragmatisch-halbabseitig dazwischenwurschtelt. Ich sehe zu, dass ich immer irgendwo ein paar halbwegs dezent-coole Jacken besitze sowie Obertrikotagen, die im Theater ebenso funktionieren wie im Büro oder im Klub. Dass es mir halbwegs egal ist, dass mich viele Menschen darin schief anschauen, musste ich mir sowieso über viele Jahre antrainieren. Auch wenn ich nach wie vor eigentlich nicht auffallen mag.
Mittlerweile greife ich auch gern wieder auf bedruckte T-Shirts als Accessoire zurück: Das mag billig sein, aber simpler kann man ja sein Inneres eigentlich nicht nach außen tragen. Oder nach innen: Ich habe eine englische Marke entdeckt, die zwar eher ungruftig aussieht, die ich aber vor allem wegen des unsichtbar eingenähten Mottos sehr gern trage: „All stick together to increase the darkness.“ „Alle halten zusammen, um die Dunkelheit zu erhöhen.“ Jawohl! Und zwar egal, wie „alle“ aussehen. Auch wenn es zunehmend wieder schwerer wird, die Menschen, die einem innerlich nahestehen, von außen zu erkennen. Aber damit kann ich leben, so lange die „Feierwehr“ Gothic von der Stange feilbietet.
Ausgezeichneter Artikel, wie eigentlich fast alles, was hier geschrieben wird.
Es gibt sie also doch noch, die Menschen, die Gothic mit einem Gefühl verbinden und in denen die „Familie“ Gothic noch lebt. Ich danke dir für diese, und auch für vorangegangene, Zeilen.